Jürgen vom Scheidt
Labyrinthe
Interview mit dem Direktor des Münchner Hauses der Kunst,
Dr. Hermann Kern, über sein Buch Labyrinthe, das im Prestel-Verlag
erschienen ist.
Die Fragen stellte Dr. Jürgen vom Scheidt
(Sendung: 27. Mai 1983 / Bayerischer Rundfunk, Nachtstudio)
(JvSch:) Meine lieben Hörerinnen und Hörer:
Vielleicht sind Sie schon einmal durch ein Gartenlabyrinth gelaufen, wie das im Aschaffenburger Schlosspark oder Sie haben davon
geträumt, in einem ausweglosen Irrgarten verloren zu sein?
Im folgenden Gespräch werden Sie einige Tatsachen
und Vermutungen erfahren, die Ihnen ganz neue, überraschende Aspekte
dieses Themas nahe bringen. Wenn Dr. Hermann Kern, der neue Direktor
des Hauses der Kunst in München, manche altvertrauten Vorstellungen über
Labyrinthe in Frage stellt, dann wird es Ihnen vielleicht gehen wie mir.
Sie werden sich fragen, wieso da nicht lange vorher schon jemand fündig
wurde und entdeckte, was die ursprüngliche Konzeption eines Labyrinths
gewesen sein dürfte, nämlich gerade nicht das schon sprichwörtliche
irreführende Durcheinander von verschlungenen Pfaden, sondern ganz
im Gegenteil ein unbeirrbar auf ein verborgenes Zentrum hinführender
Weg.
Wie auch in anderen solchen Fällen konnte es wohl
nur einem vielseitigen, nicht von den Scheuklappen eines Spezialistentums
eingeengten Außenseiter gelingen, einen so verblüffend neuen
Denkansatz zu entwickeln, einen Denkansatz, der sowohl durch seine Originalität
wie durch seine seriöse logische Argumentation überzeugt.
Keine leichte Sache, wenn man bedenkt, dass in unserer
Kultur Labyrinthe seit mindestens 5000 Jahren existieren, und dass dieses
vieldeutige Assoziationen weckende Konzept schon so manchen grübelnden
Geist beschäftigt hat.
Große Ausstellungen, die in letzter Zeit von ihm
eingerichtet wurden, waren die Kalenderbauten 1976 in der Neuen Sammlung
in München sowie eine erste orientierende Ausstellung über
Labyrinthe in Mailand. Eine ähnliche Ausstellung wird übrigens
1985 im Haus der Kunst von ihm eingerichtet werden.
Aus intensiver 6-jähriger Beschäftigung mit
diesem Thema entstand zunächst ein Katalog zur Mailänder Ausstellung,
aus dem nun ein faszinierendes Buch erwachsen ist, das soeben im Prestel-Verlag
in München erschien und schlicht "Labyrinthe" heißt.
Der Untertitel deutet bereits das ganze weite Spektrum des darin angesprochenen
Themas an: Erscheinungsformungen und Deutungen, 5000 Jahre Gegenwart
eines Urbildes. Der mit nahezu 700 Abbildungen verschwenderisch und sehr
ansprechend ausgestattete Bildband bietet indessen weit mehr als nur
eine gründlich Aufarbeitung des Ideenkreises. Es ist Hermann Kern
nämlich gelungen, die komplizierte, etwa zwanzig Fachdisziplinen
berührende Problematik der Labyrinthvorstellung in einem ansprechenden
Stil zu bearbeiten und den Leser auf einen Gang durch weite Gebiete unserer
Kulturgeschichte zu begleiten. Nicht belehrend, sondern zum Staunen und
Nachdenken einladend.
JvSch: Herr Dr. Kern, Ihr Buch hat ja u.a. zum Ziel, ein
ganz neues Verständnis der uralten Form des Labyrinths zu erkunden
und auch zu vermitteln. Deshalb vorweg die Frage an Sie: Was ist eigentlich
ein Labyrinth?
Dr. Kern: Das ist schwierig darzustellen,
vor allem, wenn das nur auf akustischem Wege vermittelt wird, weil das
Labyrinth eigentlich eine grafische Figur ist, eine Bewegungsfigur, die
also entweder gesehen oder mit körperlicher Bewegung nachvollzogen
werden muss. Zunächst
einmal muss man sich vor Augen halten, dass es verschiedene Arten von
Labyrinthen gibt. Um es salopp zu formulieren: Ein Labyrinth ist eigentlich
kein Labyrinth, bzw. nicht dasjenige, was man sich landläufig
so unter einem Labyrinth vorstellt. Beim Begriff des Labyrinths denken
die meisten an einen Irrgarten, d.h. also, an eine Anlage, ein Gebäude
oder einen Garten, in dem es sehr viele verschiedene Wege gibt, ein
Ort, an dem man die Wahl zwischen verschiedenen Wegen hat, wo man dann
auch auf Irrwege geschickt wird oder in Sackgassen landet.
JvSch: Das Ziel des Labyrinths in dieser
volkstümlichen
Vorstellung ist ja, dass man sich im Labyrinth verirren, ja sogar darin
umkommen soll.
Dr. Kern: Ja, das geht auf die sehr
merkwürdige griechische Sage
von Theseus und Minotaurus im griechischen Labyrinth zurück. Das
ist eine relativ späte Geschichtsklitterung möchte ich sagen
und hat mit dem eigentlichen Labyrinth gar nichts zu tun - im Unterschied
zum Irrgarten, einer relativ späten Vorstellung ...
JvSch: Aus welcher Zeit kommt diese Vorstellung?
Dr.
Kern: Ja, literarisch gibt es diese Vorstellung seit etwa
400 v.Chr. Bei einem Dialog Platons beispielsweise findet man diese
Vorstellung visuell formuliert; also als Zeichnung, die später
auch realisiert wurde.
Die erste Zeichnung findet sich in einem Manuskript des venezianischen
Arztes Giovanni Fontana, das er um 1420 geschrieben hat und welches
jetzt hier in der Münchner Staatsbibliothek liegt.
Das eigentliche
Labyrinth ist aber viel älter. Es kann bis ins 3. vorchristliche
Jahrtausend zurückverfolgt
werden und besitzt im Gegensatz zu einem Irrgarten nur einen einzigen
Weg, der mit sehr vielen Umwegen zu einem Zentrum führt und dort
muss der Betreffende dann kehrt machen und sich auf dem Absatz drehen
und den gleichen Weg wieder rausgehen. Man wird also zwangsläufig
ins Zentrum geführt; hat überhaupt nicht die Möglichkeit
fehlgeleitet zu werden.
JvSch: Das ist eben so interessant.
Die allgemeine Vorstellung ist ja, dass man sich verirrt im Labyrinth
und jetzt kommt eigentlich genau das Gegenteil zum Vorschein: Man
geht hinein und geht hinaus ohne sich überhaupt verirren zu können.
Dr. Kern: Das war für mich auch eine große Überraschung
bei meiner 6-jährigen Arbeit an diesem Thema. Deswegen habe ich
als Motto für das ganze Buch dann nachträglich noch das folgende,
etwas unbeholfene Gedicht gewählt:
„Im
Labyrinth verliert man sich nicht, im Labyrinth findet man sich.“
Nur begegnet man im Labyrinth nicht einem
Minotaurus, sondern sich selbst.
Denn da sehe ich einen der Hauptaspekte in dieser Vorstellungsfigur:
Das Labyrinth ist tatsächlich ein Ort der Selbstbegegnung; es ist auch eine Initiationsfigur,
ich möchte sagen, die Initiationsfigur schlechthin, die Orientierungsfigur
schlechthin, während der Irrgarten im Gegensatz dazu die Orientierungslosigkeit
oder den Verlust der Orientierungsmöglichkeiten thematisiert.
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©R.Kern |
Jürgen vom Scheidt |
Hermann Kern |
JvSch: Wie erklären Sie denn, dass
die Bedeutung des Labyrinths so ins Gegenteil umgeschlagen ist?
Dr. Kern: Das ist sehr schwierig
darzustellen. Ich kann da nur einiges vermuten. Das Labyrinth war ursprünglich
eine Tanzbewegung. Auch das kretische Labyrinth hat nicht als Gebäude
existiert, sondern war eine Tanzfläche, auf der die Bewegungsbahnen
aufgezeichnet waren, damit die Mitglieder der Tänzerkette die
Schritte richtig ausführen
konnten. Das ist der sogenannte Kranichtanz, der von verschiedenen
antiken Schriftstellern zum Teil beschrieben wird und der seinerseits
wahrscheinlich kosmologisch hermeneutische Bedeutung hatte, bei der
also die Bewegungen von Sternen nachvollzogen werden sollten, um damit
dann auch die Ordnung des Geschehens am Himmel auf magische Weise zu
gewährleisten. Dieser
Tanz war, von Außenstehenden gesehen, sicher sehr irreführend
und es lässt sich an den einzelnen Belegen nachweisen, wie im
Laufe der Jahrhunderte das Verständnis für diese Tanzfigur
mehr und mehr verloren gegangen ist, so dass also nur der Eindruck
totaler Konfusion übrig
blieb und damit die Irrgartenvorstellung. Merkwürdig ist dann
auch noch, wie diese beiden Vorstellungen über die Jahrtausende
hinweg nebeneinander existiert haben und übereinander projiziert
wurden. So wurden beispielsweise in mittelalterlichen Manuskripten
immer echte Labyrinthe gezeichnet; also nur mit einem einzigen Weg,
ohne die Möglichkeit
des Sich-Verlierens. Der dazugehörige Text spricht dann aber immer
vom Labyrinth im Sinne eines Irrgartens, also im Sinne tödlichen,
rettungslosen Irregehens. Erst jetzt im 20. Jahrhundert hat man sich
Rechenschaft darüber abgelegt, dass dies eigentlich zwei ganz
verschiedene Vorstellungsfiguren sind.
JvSch: Sie schreiben auch darüber, dass es im kirchlichen
Bereich ebenfalls einen Übergang der einen Form in die andere
gegeben hat.
Dr. Kern: Ja, die Labyrinthfigur
ist in verschiedenen Etappen auch christianisiert worden, das heißt, die christliche Kirche hat sich dieser Vorstellung
bemächtigt und sie eigenen Vorstellungen dienstbar gemacht. Das
geschah vorzugsweise im 9. und 10. Jahrhundert. Die Labyrinthfigur wurde
auch formal verändert und zuletzt dann im Labyrinth vom Typ Chartres
mit einem Kreuz überlagert. Das Labyrinth diente als Darstellung
der Sündenwelt, der Gott fernen Welt, in der die sündigen Menschen
existierten und das überlagerte Kreuz als Symbol für die Erlösung
stand.
JvSch: Im Christlichen wird also das Labyrinth nicht mehr
als Figur der Selbstfindung oder Ort der Gottesbegegnung verstanden,
sondern schon als Irrgarten. Auch in dieser klaren Form?
Dr. Kern: Ja, es wird eindeutig
die Befindlichkeit der christlichen Seele in einer sündigen und
gottfernen Welt angesprochen.
JvSch: Wie weit
lässt sich denn das eigentliche Labyrinth
in seiner eindeutigen Gangführung zurückverfolgen?
Dr. Kern: Meiner Überzeugung
nach findet sich die früheste
Labyrinthritzung in einem unterirdischen Grab in Sardinien und gehört
ins 3. vorchristliche Jahrtausend. Genau datierbar ist ein Tontäfelchen,
etwa um 1200 v.Chr. aus dem Palast des Nestor in Pylos. Dort ist ein
Labyrinth eingeritzt, das deshalb so genau datiert werden kann, weil
es bei einem sogenannten Seevölkersturm etwa 1200 v.Chr. durch
Feuer gehärtet worden ist. Von daher muss es also kurz vorher
entstanden sein. In diesen frühen Zeiten ist das eigentliche Labyrinth
also schon nachzuweisen. Welche Bedeutung es damals gehabt hat, lässt
sich nur vermuten. Beispielsweise dieses Tontäfelchen: das war
wohl eine Freizeitbeschäftigung eines Buchhalters, denn auf der
anderen Seite hat er irgendwelche Ziegen aufnotieren müssen. Es
begann also als Spielerei.
In dem sardischen Grab hatte das Labyrinth eine ganz andere Bedeutung:
Es wurde dort als Hoffnung auf Wiedergeburt interpretiert. Das klingt
jetzt etwas unvermittelt, vielleicht kann ich das durch visuelle Analyse
der Figur etwas deutlicher machen:
Wir haben eine runde Außenform, die nur durch eine kleine Öffnung
mit der Außenwelt verbunden ist. Von dieser Außenform aus
gibt es einen einzigen Weg, allerdings mit sehr vielen Windungen, die
den gesamten Innenraum ausfüllen, der dann bis zu einem Zentrum
führt. Ich sehe das als Initiationsfigur und Initiation bedeutet
symbolischer Tod und symbolische Wiedergeburt. Das lässt sich einigermaßen
belegen, wenn man sich in die Situation dessen hineinversetzt, der versucht
in diese Anlage hineinzugehen. Er wird zunächst einmal durch den
abweisenden Charakter abgeschreckt. Dieser Innenraum ist gegenüber
dem Außenraum ziemlich hermetisch abgeschlossen. Die vielfältigen
Windungen und die Unübersichtlichkeit der Anlage verwirren. Die
Person traut sich erst dann hinein, wenn sie eine bestimmte Reife, ein
bestimmtes Selbstvertrauen hat, was genau der Situation einer Altersinitiation
entspricht; in der aus dem sozial und sexuell unmündigen Kind der
mündige und sozial gleichberechtigte Erwachsene wird. Dieser geht
dann in das Labyrinth hinein und wird auf dem Weg zum Ziel durch ein
Maximum an Umwegen und durch ein Maximum an Kraft- und Zeitverlust geplagt.
Diesen Vorgang kann man als die initiatorische Prüfungssituation
im Zentrum sehen. Man begegnet dort nicht dem Minotaurus, sondern sich
selbst, seiner Gottheit oder wofür auch immer Zentrum oder Mitte
stehen mag. Jedenfalls bietet das Zentrum die Möglichkeit und auch
den Platz für eine Erfahrung, die so grundlegend ist, dass diejenige
Person dann kehrt machen muss. Und zwar auf dem Absatz muss er kehrt
machen, denn wenn jemand seine Gehrichtung um 180° wendet, dann bedeutet
das gleichzeitig, dass er sich von seiner Vergangenheit so radikal löst,
wie überhaupt nur denkbar. Das bedeutet eine Aufhebung seiner bisherigen
Existenz, die im Zentrum geendet hat und das bedeutet gleichzeitig, dass
er als quasi Wiedergeborener aus dem Labyrinth wieder herausgeht.
Diesen Gehalt findet man auch in der Grabkammer, wo also der Tote erst
einmal niedergelegt wird und im Labyrinth dann die Verkörperung
auf Wiedergeburt stattfindet. Ähnliche Motive gab es auch bei Labyrinth-Ritzungen
im Nordwest-Spanien der Bronzezeit, etwa 1200 v.Chr.. Diese standen in
engem Zusammenhang mit bronzezeitlichem Zinnbergbau, in dem der Bergmann
sozusagen in den Schoß der Mutter Erde einging - in eine andere
Welt, in die Unterwelt und das Labyrinth. So kann dieses in diesem Zusammenhang
als Hoffnung auf die Wiederkehr aus der Unterwelt, als Hoffnung auf Rückkehr
und auch als magisches Zeichen, als magische Vergewisserung dafür,
dass es eine Rückkehr gibt, interpretiert werden. Das bedeutet,
dass das Labyrinth in ganz ausgesprochenem Maß eine magische Figur
ist.
JvSch: Jetzt sind wir sehr
weit in die Vergangenheit zu den Anfängen zurückgekommen, etwa 5000 Jahre vor unserer Zeit.
Wie kommt es, dass gerade heute zum einen Ihr Buch erscheint, dass Sie
sich mit dem Labyrinth beschäftigen und dass auch in der Literatur
im Allgemeinen dieses Symbol des Labyrinths heutzutage sehr häufig
auftaucht?
Dr. Kern: Das ist auch ein
sehr komplexes Phänomen. Ich möchte
einige Aspekte dazu herausgreifen:
Zunächst einmal gibt es tatsächlich ein sehr großes Interesse
an dieser Figur. Ich sehe das zum Beispiel bei der Beobachtung der zeitgenössischen
Kunstszene. Ich kenne sehr viele Künstler, die mit dieser Figur gearbeitet
haben. Und zwar in beiden Versionen, sowohl als Labyrinth wie auch als Irrgarten.
Mit jeweils unterschiedlicher, bei diesen Leuten sicher unbewusster Forschungsrichtung.
Auch das Echo, sowohl auf die Publikation wie auch auf die Ankündigung
einer großen Labyrinth-Ausstellung, die im Haus der Kunst 1985 gezeigt
werden soll, ist sehr groß. Ich deute dies als ein Zeichen für eine
Suche nach Ganzheit und nach Einheit. Denn das Labyrinth ist eine Ganzheitsfigur.
Es ermöglicht einem Individuum, sich selbst zu finden, sich selbst als
Ganzheit zu erleben. Das Labyrinth ist in sich eine organische Ganzheit und
das ist etwas vom Selbstverständlichsten, aber auch etwas vom Allerwichtigsten
heutzutage. Wenn man sich einmal vor Augen hält, wie zersplittert unsere
täglichen Lebensumstände sind, in wie viel tausend Einzelfunktionen
wir auftreten; jetzt hier im Moment vor dem Mikrofon, vorher als Trambahnfahrer
oder als Geschäftspartner, oder als Familienvater oder Steuerzahler; alles
Einzelfunktionen, von denen aus man nie zur eigentlichen Mitte und zum Zentrum
und zum eigentlichen Wesen seiner Existenz kommen kann. Das ist ein Defizit,
das mit Sicherheit nicht nur ich selbst spüre, sondern auch andere
veranlasst, auch die Suche nach Ganzheitserlebnissen zu gehen. Dies
spiegelt sich in der Labyrinthfigur wider.
JvSch: Wie geht das zusammen? Sie stellen
auf der einen Seite in den Mittelpunkt als das eigentlich Faszinierende
des Labyrinths, dass dort Ganzheit hergestellt wird, dass man dort zu sich
selbst findet. Auf der anderen Seite wissen wir, dass viele Menschen davon
fasziniert sind, dass der Irrgarten eben in die Irre führt.
Dr. Kern: Ja, das muss man dialektisch
sehen. Die beiden Vorstellungen, der Irrgarten und das Labyrinth, gehören
ganz eng zusammen. Die Vorstellung rettungslosen Irregehens, so wie
sie sich im Irrgarten materialisiert, ist überhaupt nicht denkbar
ohne den Hintergrund einer so ausgeprägten
Orientierungsfigur wie sie im Labyrinth gefunden wird. So kann also
die Vorstellung rettungslosen Irregehens nur als bestimmte Form einer
Suche nach festem Halt und Orientierung interpretiert werden. Nur aus
diesem dialektischem Bezug heraus sind beide Vorstellungen überhaupt
verständlich.
JvSch: Wir wissen ja, dass viele
Menschen sich heute sehr orientierungslos fühlen. Könnten Sie sich vorstellen, dass
man diese Figur des Labyrinths sogar in einer Form der Psychotherapie
gezielt einsetzen könnte?
Dr. Kern: Ja, unbedingt. Das Labyrinth
ist eine ganz wesentliche Figur, die in ganz tiefe Seelenschichten hinab
reicht. Erreicht ein Therapeut diese Seelenschichten, kann er nicht nur
im Einzelfall sehr viel erreichen, sondern auch grundsätzlich für unsere Befindlichkeit als Mensch
sehr umfangreiche Aufschlüsse gewinnen.
JvSch: Sie könnten sich also vorstellen, ein Labyrinth
zu bauen, das die Menschen dann zur Selbsterkundung richtig begehen könnten?
Dr. Kern: Ja, unbedingt. Und auch
in der Ausstellung, die ich 1985 im Haus der Kunst organisieren werde,
ist daran gedacht, dass sehr viel Bewegungsmöglichkeiten gegeben sind, dass also die Bewegungsfigur "Labyrinth" tatsächlich
ausagiert, nachempfunden und nachvollzogen werden kann.
JvSch: Auch in Träumen tauchen ja immer wieder Labyrinthe
auf, wenn man sich irgendwo verloren fühlt. Ich könnte mir
vorstellen, dass für Sie auch solches Material interessant wäre.
Dr. Kern: Ja, solche Träume sind für mich außerordentlich
interessant. Ich habe auch schon während der Arbeit an meinem Buch
danach gesucht. Habe allerdings nur wenig Aufschlussreiches gefunden.
Für mich ist vor allem die geburtssymbolische Perspektive daran
interessant, denn praktischer Weise wird in Indien das Labyrinth ganz
eindeutig als geburtsmagische Figur verstanden, an der einerseits der
Weg - der Geburtsweg - gezeigt wird, andererseits das Labyrinth als magische
Erleichterung des Geburtsvorgangs verstanden wird. Ich könnte mir
vorstellen, dass es Träume gibt, die mir bisher allerdings nicht
zugänglich waren, in denen dieses Geburtserlebnis labyrinthisch
gedeutet wird.
JvSch: Die Figur des Labyrinths ist
ja im Grunde genommen sehr einfach. So wie Sie es beschreiben, wie
es offenbar eben in der häufigsten Form vorkommt, hat es eigentlich sieben Abschnitte. Oder
wie würden Sie das ausdrücken?
Dr. Kern: Sieben Windungen.
JvSch: Sieben Windungen auf beiden Seiten. Also, die
Windung heißt, dass es immer von links nach rechts geht in der Pendelbewegung
und dann wieder zurück.
Dr. Kern: Ja.
JvSch: Können Sie etwas sagen,
warum ausgerechnet sieben? Die Sieben ist ja heilig ...
Dr. Kern: Ja, das habe ich mich
auch lange gefragt. Das hat sicher eine bestimmte Bedeutung. Aber die
gängigen Bedeutungen, die sich mir
aufgedrängt haben, haben mich nicht zufrieden gestellt. Mit dieser
kosmologischen Perspektive denkt man zunächst erst einmal an die
sieben Planeten, aber das stimmt deshalb nicht, weil in der Antike
nur fünf Planeten bekannt waren. Rechnet man Sonne und Mond noch
dazu, dann waren es sieben. Die Frage ist aber, ob zur Zeit der Ausbildung
dieser Figur sieben Planeten bekannt waren? Das möchte ich bezweifeln.
Möglicherweise kann die Sieben-Figur im Hinblick auf Wochentage
oder auf die Oktave in der Musik gedeutet werden. Sieben Ganztöne
und dann kommt wieder die nächste Oktave als Zeichen des Wiederbeginns.
Vielleicht gibt es da Zusammenhänge, aber das sind meiner Überzeugung
nach nachträgliche Spekulationen.
Ich bin auch gar nicht der Überzeugung,
dass das Labyrinth griechischen Ursprungs ist. Ich denke vielmehr,
dass es minoischen Ursprungs ist, also noch vorgriechisch und auf der
Insel Kreta entstand und erst später von den Griechen übernommen
wurde.
JvSch: Ist das Labyrinth auf einen
bestimmten kulturellen Raum beschränkt,
oder gibt es die überall auf der Welt?
Dr. Kern: Die gibt es nicht überall,
was dafür spricht, dass
eine bestimmte kulturelle Reife Voraussetzung für das Entstehen
oder für die Aufnahme dieser Figur war. Meiner Überzeugung
nach ist die Figur auf Kreta entstanden und war dann, schon lange vor
Christi Geburt, im ganzen Mittelmeerbecken verbreitet. Etwa zur gleichen
Zeit kam es auch nach Nordeuropa. Es gibt zum Beispiel Felsritzungen
in Cornwall, die in die Bronzezeit zurück datiert werden. Es gibt
skandinavische, sogenannte Trojaburgen, das sind labyrinthförmige
Steinsetzungen auf dem freien Feld, meistens in Küstengegenden,
die unglaublich schwer zu datieren sind. Ich denke, dass diese dem
Typ nach auch in die Bronzezeit zurückreichen dürften.
Relativ
früh dürfte sich dann auch die Vorstellung nach Osten verbreitet
haben, wobei ich vorzugsweise an die Feldzüge von Alexander dem
Großen denke, der 327 v.Chr. in Indien war. In Indien spielte
das Labyrinth eine sehr große Rolle, es wurde dann von Indien
aus weiter bis nach Sumatra und Java verbreitet, und hat dann mit Sicherheit
den Weg über den Pazifik genommen, in den Südwesten der USA.
Es gibt das merkwürdige Phänomen, dass es bei den Hopi-Indianern
in Arizona die Labyrinthvorstellung auch als Symbol der Wiedergeburt
gibt. Dort wurde das Labyrinth sicher nicht von christlichen Missionaren
eingeschleppt. Aus verschiedenen Gründen lässt sich ganz
klar das Gegenteil beweisen und die Hopi selbst sprechen auch in ihren
Ursprungsmythen davon, dass sie über ein großes Meer gekommen
sind, auf der Suche nach ihrer derzeitigen vierten Welt und dass sie
bei dieser Fahrt über
das Meer immer nach Osten gefahren sind, einmal sogar nach Nordosten.
Was also eindeutig auf transpazifische Verbindungen hinweist. Das war
einer der zusätzlichen Funde, die sich bei dieser Riesenmaterialsammlung
ergeben haben.
JvSch: Wo gibt es hier in der näheren Umgebung von
München, beziehungsweise in Bayern Labyrinthe, die man anschauen
oder vielleicht sogar begehen kann?
Dr. Kern: Hier in München zum Beispiel, im Rathaus. Sie finden
es im Innenhof, also im Freien. Das ist ein achteckiges Labyrinth, das
nach dem Modell der nordfranzösischen Kirchenlabyrinthe kurz vor
der Jahrhundertwende angefertigt wurde - also nachgeahmt eigentlich.
Das kann man entlanglaufen. Es ist allerdings schwer erkennbar, weil
die Steine, mit denen es eingelegt wurde, sich farblich kaum vom Rest
des Bodenbelages unterscheiden. Im Schlossgarten von Aschaffenburg gibt
es ein Labyrinth, im großen Garten von Herrenhausen ein Gartenlabyrinth
und auf sehr vielen Zeichnungen und Stichen vorzugsweise seit dem 16.
Jahrhundert.
JvSch: Gibt es richtige Labyrinth-Bauten?
Dr. Kern: Es gab in der Antike
Bauten, die Labyrinth genannt wurden, aber keine Labyrinthe waren.
Es gab da nur eine einzige sehr rätselhafte
Struktur, den Unterbau in der Tholos von Epidauros;
wo tatsächlich
die Bewegungsführung so war, dass sie einem eigentlichen Labyrinth
entsprach. Über
die Bedeutung von diesem Bau weiß man leider überhaupt nichts.
JvSch: Ich glaube, der Leser
wird in Ihrem Buch sehr fündig werden. Ich würde hier gerne abschließen
und mich recht herzlich bei Ihnen für dieses Gespräch bedanken. Ich darf zum Abschluss noch einmal auf das Buch
von Dr. Hermann Kern hinweisen: Es heißt "Labyrinthe",
Erscheinungsformen und Deutungen, 5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes,
erschienen im Prestel-Verlag in München.
Copyright © 1983/2005 für diesen Text: Dr. Jürgen
vom Scheidt und IAK München:
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